Edvard Munch
In meiner Bibliothek stieß ich jüngst auf den Roman Niels Lyhne von Jens Peter Jacobsen. Der früh vollendete dänische Autor (1847-1885) übte in den Jahren nach 1900 großen Einfluss aus auf die Dichter der Dekadenz, wie Rilke, Stefan George und Thomas Mann. Wir kennen ihn heute am ehesten durch Arnold Schönbergs spätromantische Vertonung seiner Gurre-Lieder.
Mein Buch trägt eine Widmung an meine Mutter: „Meiner lieben Schwester Marga zum Weihnachtsfest 1935 von ihrem Bruder Hermann“. Feinsinnige Menschen wie mein Onkel, der eine Karriere als Balletttänzer an der Berliner Staatsoper Unter den Linden begonnen hatte, wussten gerade auch in jener dunklen Zeit Jacobsen zu schätzen.
In Niels Lyhne (1880) beschreibt Jacobsen das Los des etwa 30 Jahre alten Malers Erich Restrup, der sich nach anfänglichen Erfolgen eines Tages in einer Schaffenskrise wiederfindet. Unvermittelt steht er vor der Frage, die sich vielen Künstlern in der gleichen Situation stellt: Wie soll es weitergehen? Habe ich die Kraft, den Willen, den Mut, vor allem die Vision, um auch gegen Widerstände anzuarbeiten? Oder reicht mein Talent nicht, fehlen die innere Stärke und vor allem die Vision für den ersehnten Erfolg?
Seit Kindheitstagen mit Niels auf das innigste verbunden, klagt Erich ihm sein Leid:
„Es gibt nichts Erbärmlicheres, als Künstler zu sein… meinem Verstand fehlt nichts, und ich will arbeiten, aber ich kann nicht, ich kämpfe und greife nach etwas Unsichtbarem, das sich nicht greifen lassen will, zu dem keine Anstrengung mir verhelfen kann, und wenn ich mich abmühte, bis das Blut mir unter den Nägeln hervorspritzte. Was soll man tun, um eine Inspiration, eine Idee zu bekommen? … Was soll ich tun; es muß doch irgend etwas geben, das man tut, wenn es so mit einem bestellt ist; ich kann doch nicht der erste sein, den es trifft, wie? Weißt du nichts?“
Niels empfiehlt ihm, auf Reisen zu gehen, um neue Eindrücke zu gewinnen. Darauf Erich: „Die neuen Eindrücke! Das ist es ja gerade. Hast du nie von Leuten erzählen hören, so lange sie in ihrer ersten Jugend standen und frisch waren und voll von Hoffnungen und Plänen; dann aber, als sich das verlor, war auch ihr Talent fort – und kam niemals wieder.“
Tatsächlich hat Erich größte Sehnsucht zu reisen, doch er wagt es nicht, denn er könnte dabei zu unliebsamen Erkenntnissen gelangen: „Denk, wenn ich der Gewißheit von Angesicht zu Angesicht gegenüberstände, daß es mit mir zu Ende ist, daß ich nicht mehr das Geringste hätte, nichts, daß ich nicht könnte, denk dir: nicht könnte…“
Niels, „der sechzig Meilen gereist war, um zu helfen“, weiß auch nicht weiter: „Vielleicht kann man die Göttin mit den leeren Händen von eines Künstlers Tür jagen, aber das ist wirklich auch alles; man kann ihm nicht mehr zum Schaffen verhelfen, als man ihm, wenn er lahm wäre, helfen könnte, den kleinen Finger zu heben…“
Erichs Niedergang, beschleunigt durch den schändlichen Ehebruch seiner Frau mit Niels, findet in einem Unfall sein konsequentes Ende. Die Pferde gehen mit ihm durch, „und er war mit dem Kopf an eine Mauer geschleudert worden. Der Schädel war zerschmettert, und jetzt lag er tot in Aalborg.“
Mein Onkel Hermann hat sein Ziel übrigens erreicht, er war als Solotänzer durchaus erfolgreich. Das häufige Tänzerschicksal, mit einem zerschundenen Körper bald ohne berufliche Perspektive dazustehen, blieb ihm erspart, allerdings um einen hohen Preis. In den letzten Kriegstagen wurde der lange verschonte 30-Jährige doch noch eingezogen; er fiel in der Schlacht um Berlin.