Proust und Vermeer in neuer Sicht

Marcel Proust war nahezu besessen von einer „kleinen gelben Mauerecke“ in Jan Vermeers Gemälde „Ansicht von Delft“ (1660-61). Das hat Fans und Forscher seit Jahrzehnten beschäftigt und zu vielfältigen Deutungen angeregt. Ich meine: Es geht Proust um den kurzen Spannungsmoment, bevor der Himmel sein Versprechen einlöst und die Sonne ihren hellen Schein über Vermeers Heimatstadt ergießt.

In der kurzen Passage in „Die Gefangene“, dem fünften Band der „Suche nach der verlorenen Zeit“, kommt Proust zu knappen, gleichwohl sehr grundsätzlichen Gedanken über Literatur und Kunst, über das Schreiben, das Malen und die Wahrnehmung von Kunst.

Bergotte

Der angesehene Autor Bergotte (heute würde man von einem Großschriftsteller sprechen) ist eine zentrale Figur in der „Recherche“: Er weist dem Erzähler in dessen Jugend den Weg zur Schriftstellerei und ist ein gern gesehener Gast in den vornehmen Salons des Faubourg Saint-Germain,. Es ist jene aristokratische Gesellschaft, die den Erzähler – und Proust – so außerordentlich fasziniert. Aus die Zeitung erfährt Bergotte von einer Ausstellung, in der Vermeers „Ansicht von Delft“ gezeigt wird, „ein Bild, das er liebte und sehr gut zu kennen meinte“. Bergotte liest, dass „das Bild eine kleine gelbe Mauerecke (an die er sich nicht erinnerte) enthalte, die so gut gemalt sei, dass sie allein für sich betrachtet einem kostbaren chinesischen Kunstwerk gleichkomme, von einer Schönheit, die sich selbst genüge“.

Vermeer

Bergotte macht sich umgehend auf den Weg zum Ausstellungssaal. Aufgrund der Beschreibung des Kritikers entdeckt Bergotte in Vermeers Bild – „das er strahlender in Erinnerung hatte“ – Details, die ihm zuvor entgangen waren, etwa „kleine blaugekleidete Figürchen“, „und endlich auch die kostbare Materie des ganz kleinen gelben Mauerstücks“. So hätte ich schreiben sollen, sagt er sich, und setzt „in einer himmlischen Waage“ sein ganzes Leben gegen „die kleine so trefflich gemalte Mauerecke“. Kurz darauf erliegt Bergotte einem Schlaganfall.

Manches wird uns in dieser kurzen Passage mitgeteilt: dass Proust dem Prinzip des l’art pour l’art huldigte – „Schönheit, die sich selbst genügt“ -, dass die Erinnerung sehr wohl trügen kann, dass man vornehmlich das sieht, was man weiß. Zudem wird Proust Neigung zu detailliertester Beschreibungen deutlich. Um so erstaunlicher, dass der Genauigkeitsfetischist sich in einem Punkt irrt: „le petit pan de mur jaune“ lokalisiert er „unter einem Dachvorsprung“ – doch den gibt es nicht im Bild.

Jeu de Paume

Natürlich ist Bergotte mit Proust identisch. Die reale Szene ereignet sich im Mai 1921, als das Jeu de Paume eine Ausstellung holländischer Malerei zeigt. Proust hat darüber in der Zeitung gelesen und macht sich am frühen Morgen auf den Weg. Zuvor hat er, wie üblich, die ganze Nacht hindurch im Bett gearbeitet und, wie so oft, einen Schwächeanfall erlitten. In dieser Verfassung ist sein Blick vielleicht etwas getrübt, und er hält eine Brückenkonstruktion in Vermeers Bild, neben einer sonnenhellen gelblich-weißen Mauer am äußersten rechten Bildrand, für einen Dachvorsprung. Auch wenn er sich zu diesem Zeitpunkt bereits intensiv mit seinem Tod befasst (er stirbt eineinhalb Jahre später): Ganz so desolat wie bei Bergotte ist sein Zustand nicht. Denn anschließend besucht er noch eine Ingres-Ausstellung und luncht im Ritz.

Zeitgenossenschaft

Diese kurze Szene bei Proust erinnert mich an meine eigene erste Begegnung mit Vermeers Bild. Ich kannte es aus Büchern, hatte es jedoch nie im Original gesehen. So traf es mich wie ein Blitz, als ich in Den Haag im Mauritshuis unvermittelt vor ihm stand: Die Präsenz des überraschend großen Gemäldes, seine vollkommene Zeitgenossenschaft warf mich schier um. Dafür gab es zwei Gründe. Der erste: Es war die Zeit des Fotorealismus, der 1972 auf der documenta 5 in Kassel seinen großen Auftritt hatte. Und hier war nun ein Gemälde des 17. Jahrhunderts, das mit seiner fotografischen Detailgenauigkeit anstandslos in diese Kunstrichtung einzuordnen war.

Der zweite Grund für die außerordentliche Wirkung liegt im Bild selbst. Vermeer hat ein kleines Wunder vollbracht, indem er einen entscheidenden transitorischen Moment trifft. Er schildert einen zwar hellen, doch wolkigen Tag, Delft liegt zum größten Teil im Schatten. Doch wir ahnen, wir wissen es: Im nächsten Augenblick wird die Sonne durch die Wolken brechen und die gesamte Szenerie in hellstes, warmes Licht tauchen. Die von Proust hervorgehobene gelbe Mauerecke ist gewissermaßen die Ankündigung dieses großartigen Moments, die Versicherung, dass die Sonne auch hinter Wolken ihre Bahn zieht.

Bergotte (und Proust) hat also doch recht, wenn er das Bild als „strahlend“ in der Erinnerung trägt. Er konnte eben das voraussehen, was sich im nächsten Augenblick ereignen wird: der Sieg der Sonne, der Triumph des Lichts.