In der Moderne verschiebt sich die Aufgabe und Bedeutung des Kunstwerk-Titels: Er verselbständigt sich in gewisser Weise und fügt dem Kunstwerk, das er bezeichnet, einen weiteren Aspekt hinzu. In der älteren Kunst ist der Titel nichts weiter als eine Beschreibung des Inhalts: Gemälde mit Bezeichnungen wie „Kreuzigung“,„Stillleben mit Schmetterling“ oder „Landschaft mit Kühen“ zeigen eben exakt das Benannte. Das ändert sich, als etwa Claude Monet einen diesigen Sonnenaufgang im Hafen mit dem Zusatz “Impression” versieht oder James McNeill Whistler das Porträt seiner Mutter als “Arrangement in Grau und Schwarz” bezeichnet.
Beide Gemälde entstanden anfangs der 1870er Jahre. Man kann also sagen, dass (spätestens) zu diesem Zeitpunkt einigen Künstlern daran gelegen ist, mit dem Titel eine über den figürlichen Inhalt hinaus gehende zweite Botschaft zu überbringen: im einen Fall den Effekt eines flüchtigen Eindrucks, einer Impression, im anderen ein Spiel mit Farben und Flächen.
Wenn wir, geschult durch die Werke der Moderne, Rembrandts flüchtigen oder El Grecos expressiven Pinselstrich bewundern, so lag diesen Künstlern doch nichts ferner, als diese malerisch-technischen Mittel als einen eigenen, vom Bildgegenstand unabhängigen Bildinhalt anzusehen.
Selbst für einen William Turner wäre es – ein halbes Jahrhundert vor Monet und Whistler – noch undenkbar gewesen, auch die “abstraktesten” Skizzen als gegenstandslose Abstraktionen im modernen Sinn zu verstehen: Die Werke gehen stets von einer Landschaft, einer bestimmten Szenerie etc. aus.
Der um 1870 eingeschlagene Weg der Titelgebung setzt sich fort mit der vollständigen Abstraktion: Whistlers stets naturalistisch-figürliche “Nocturnes“, „Symphonies“ und „Harmonies“ werden bei Kandinsky zur „Improvisation“, bei Mondrian zur „Komposition“ und bei den Konstruktivisten (Überraschung!) zur „Konstruktion“. Jackson Pollock schließlich gibt seinen Werken seit 1947 nur noch fortlaufende Nummern: „No. 5“ etc. Der Betrachter des Werks ist auf sich gestellt, er soll das Werk ganz für sich interpretieren.
In dieser Generation bürgert sich dann auch der Titel „Ohne Titel“ ein: bei Mark Rothko etwa – der seine Werke gern auch nach fortlaufenden Nummern oder den verwendeten Farben benennt – ist ein „Untitled“ häufig zu finden. Der Amerikaner nennt auch einen Grund: „Bilder müssen geheimnisvoll sein.“
Dieses Geheimnisvolle können Künstler ihren Werken aber auch dann verleihen, wenn sie den Titel nicht verweigern, sondern ihm (ganz im Sinne der überwundenen Tradition) in einen dezidiert gegenständlichen, erzählerischen Namen geben – der allerdings dem lesbaren Inhalt widerspricht und dem Werk damit eine zusätzliche Ebene der Bedeutung verleiht. Die Surrealisten sind wahre Meister in dieser Disziplin.
Heute ist bei der Titelgebung schlicht alles möglich und üblich, von der Bezeichnung des Gegenstandes oder Themas über eine assoziative Phantasie bis hin zum „Ohne Titel“. Häufig beginnen Künstler ihre Werke mit einer noch ungenauen Vorstellung über den Endzustand und geben ihnen erst nach der Vollendung einen – meist assoziativ gewonnenen – Namen. Auf jeden Fall lohnt es sich für den Betrachter, beim Titel genau hinzusehen und sich seine eigenen Gedanken zu machen.
Viele Werke der älteren Kunst erhielten ihre Bezeichnung im übrigen nicht von den Autoren, sondern von Dritten – von Auftraggebern, Sammlern, Händlern oder Kunsthistorikern. Denn wie jedes Ding braucht auch ein Kunstwerk für seine Handhabung einen Namen, spätestens dann, wenn es das Atelier verlässt; und da ist die Beschreibung des Inhalts der einfachste Weg.
Nebenbei: Als Galerist kann ich von den Nöten berichten, die sich ergeben, wenn fünf Gemälde einer Künstlerin in Datum, Format und Technik identisch sind – wie soll man die in der Text-Datei nur unterscheiden!? (Meine Lösung sind anschauliche Not-Titel…)
das „Schwarze quadrat“
Ein schönes Beispiel für die Frage nach dem Autor und den Umständen der Entstehung von Kunstwerk-Titeln ist eine Ikone des 20. Jahrhunderts, eines der bekanntesten und einflussreichsten Kunstwerke überhaupt: Kasimir Malewitschs „Schwarzes Quadrat“. In der ersten Präsentation im Jahr 1915 hieß der Entwurf schlicht „Viereck“; erst einige Jahre später gab Malewitsch weiteren Versionen dieses Motivs den bekannten Namen.
Ich wage diese Vermutung über die Entstehung des Titels: Das in seiner Radikalität einzigartige Bild wurde im Kreise der russischen Konstruktivsten im Laufe der Jahre heftig diskutiert, es bekam einen geradezu mythischen Charakter, und da fiel dann irgendwann das Wort vom „Schwarzen Quadrat“. Dieser Begriff bürgerte sich ein, und Malewitsch übernahm ihn schließlich: Er klingt eben weitaus griffiger, bedeutender, geheimnisvoller als ein schlichtes „Viereck“…
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